Veröffentlichungsdatum: 09.05.2025
Manchmal sind es die leisen Werke, die am längsten nachhallen. Construct, das neue Album von VNV Nation, ist kein greller Paukenschlag und kein Konzeptalbum, das sich mit markigen Statements aufdrängt. Es ist eher eine innere Skizze, eine Art Kontur – vorsichtig, bedacht, voller Zwischentöne. Es wirkt wie ein Album, das nicht um Aufmerksamkeit buhlt, sondern um Vertrauen bittet. Und genau das macht seine Stärke aus.
Schon der Titel „Construct“ deutet an, worum es hier geht: Aufbau, Struktur, vielleicht auch Zerbrechlichkeit. Was bleibt, wenn man das Lauteste wegnimmt? Wenn Beats nicht mehr dominieren, sondern begleiten? Wenn man nicht zwingend tanzen muss, sondern hören darf – auf das, was zwischen den Zeilen steht?
Gleich zu Beginn breitet Hymn einen Raum aus, der sich wie eine Erinnerung anfühlt. Die Synthflächen sind weit, fast sakral, die Harmonien schwebend. Es ist kein klassischer Opener im Sinne eines Szenekrachers – vielmehr ein Aufruf zur inneren Stille. Man hört nicht, um sich abzulenken, sondern um sich zu begegnen.
Ein Song, der dabei ganz besonders hervorsticht, ist By Your Side – eine elektrisierende Mischung aus emotionaler Wucht und rhythmischer Strenge. Anders als zunächst erwartet, beginnt der Track mit einer knackigen, fast stoisch durchschlagenden Bassline, die wie ein pochendes Herz unter der Oberfläche pulsiert. Die Strophe treibt nach vorn, ist zugleich kontrolliert und aufgewühlt – ein innerer Konflikt, vertont in Beats und Synapsenfeuer.
Doch mit dem Refrain öffnet sich der Song – wie ein innerer Widerstand, der endlich nachgibt. Die Melodien steigen, Ronans Stimme löst sich aus der Enge der Verse. Es ist, als würde der Song Luft holen – nach Worten, nach Nähe, nach Erlösung. Die Lyrics verstärken genau diesen Eindruck: „Who protects us if it hurts too much? / Can we turn away when we fear to touch?“ – das sind keine Fragen, das sind seismische Risse im zwischenmenschlichen Fundament. Und dann das wiederkehrende Versprechen, fast beschwörend: „I’ll be by your side.“ Nicht groß, nicht pathetisch, aber unausweichlich. Wie eine ausgestreckte Hand, selbst wenn alles in einem sagt: bleib auf Abstand.
Save Me geht in eine ähnliche Richtung, wirkt aber wie eine Antwort auf die Unsicherheit in „By Your Side“. Auch hier zeigt sich VNV Nation in einer Form, die zutiefst verletzlich und gleichzeitig stark wirkt – wie eine Figur, die am Abgrund steht und doch noch aufrecht bleibt. Der Song beginnt mit einem warmen, melancholischen Soundbett, getragen von sanften, aber bestimmten Synth-Flächen. Es ist kein Aufschrei, kein dramatischer Appell – sondern ein stilles, aufrichtiges Bitten.
Die Lyrics lassen keinen Zweifel daran, dass es hier um weit mehr geht als um romantische Klischees. „Save me / You’ll always save me / When you’re strong enough to heal a fragile heart“ – das ist keine einfache Liebeszeile, das ist ein Geständnis. Von Unsicherheit. Von Abhängigkeit. Von Hoffnung. Und doch ist da auch dieser lichtvolle Blick nach vorn: „We’ve yet so many worlds to conquer / So many roads for us to wander.“ – ein Versprechen, das zugleich nach Sehnsucht und Zukunft klingt.
Musikalisch baut sich der Song schrittweise auf, mit einem Refrain, der sich öffnet wie ein Sonnenstrahl nach langer Dunkelheit. Die Stimme von Ronan Harris bleibt nahbar, fast zärtlich, aber durchdrungen von innerer Klarheit. Und wenn er singt: „I will write our names in a heaven full of stars“, dann glaubt man ihm das – weil es nicht überhöht, sondern ehrlich klingt.
Besonders eindrucksvoll gelingt VNV Nation das Spiel mit Reduktion und Aussagekraft in Silence Speaks. Der Song lebt von einem Kontrast, der fast meditativ wirkt: Stille und Beat, Spannung und Loslassen, Klang und Leere. Der Track beginnt zurückhaltend, fast schwebend. Die Verse entfalten sich langsam, getragen von Ronans Stimme, die hier eher rezitiert als singt – fast wie ein gedanklicher Monolog, der in eine höhere Ebene überleitet.
Erst spät bricht ein eigentlicher Refrain durch – und wenn er kommt, dann nicht mit voller Wucht, sondern mit fast tranceartigen Leads, die sich wie Lichtfäden durch den dunklen Raum ziehen. Es ist ein Moment, in dem das Album für einen Moment in Richtung Club kippt – aber auf ganz eigene, stille Weise. „Silence hides within the noise“ heißt es dort – und genau so klingt es auch. Als hätte man die Frequenz gefunden, auf der Stille sendet.
Besonders stark: In mehreren Passagen zieht sich die Musik vollständig zurück. Keine Synths, keine Pads, kein Beat. Nur der Raum, nur die Erwartung. Diese bewussten Pausen sind mehr als musikalische Spielereien – sie vertonen die Essenz des Titels. Stille spricht – und hier wird ihr zugehört. Sie bekommt Raum. Bedeutung. Gewicht.
Silence Speaks ist ein Song, der weder aufdrängt noch unterhält. Er fordert. Und wer bereit ist, ihm zuzuhören – wirklich zuzuhören – der wird spüren, dass zwischen zwei Tönen manchmal mehr Wahrheit liegt als in tausend Worten.
Auch die übrigen Songs – The Spaces Between, Station 21, Nothing More, Close to Heaven, On Other Oceans, Frontier I + II – tragen diese Handschrift. Construct ist ein geschlossenes Werk, das keine Kompromisse eingeht. Es will nicht jedem gefallen. Es will nicht auf jede Playlist. Es will einfach nur existieren – für die, die bereit sind, sich darauf einzulassen.
Fazit:
Construct ist kein Album für schnelle Klicks oder flüchtige Aufmerksamkeit. Es ist ein Werk für stille Nächte, für lange Autofahrten, für den Moment, in dem man nicht mehr redet. VNV Nation beweisen hier, dass Größe nicht in Lautstärke liegt – sondern in Haltung, in Reduktion, in Tiefe.
Für all jene, die mit dieser Band gewachsen sind, ist Construct vielleicht nicht der Soundtrack zum Ausgehen – aber ganz sicher der zum Nachhausekommen.
Tanja empfiehlt:
„By Your Side“, „Silence Speaks“ und „Save Me“ – Songs, die unter die Haut gehen, ohne sie zu durchdringen.
Die Rezension
Construct
Construct ist kein Album für nebenbei – sondern für zwischendurch. Für Momente, in denen man zuhören will, nicht nur konsumieren. VNV Nation zeigen hier ihre verletzliche, reduzierte Seite und liefern ein Werk, das still berührt und lange nachwirkt. Keine lauten Parolen – aber viele leise Wahrheiten. Ein Album zum Innehalten. Und zum Wiederkommen.
PROS
- Emotionale Tiefe ohne Kitsch
- Reduktion als Stärke
- Atmosphärische Klanglandschaften
CONS
- Nicht die gewohnte Clubtauglichkeit
- Zurückgenommene Dynamik
- Erfordert Aufmerksamkeit und Geduld
Fazit
- Songwriting & Komposition 0%
- Produktion & Sounddesign 0%
- Stimmung & Atmosphäre 0%
- Originalität & Wiedererkennungswert 0%
- Abwechslung & Dynamik 0%